AUF DEM BLUMENPFAD.

Ein Essay von Inge Harms

Auf den ersten Blick sehen wir Blumen, überall Blumen. Blumen in allen Lebenslagen. Blumen in voller Blüte präsentieren den Sommer. Blüten in leicht vertrocknetem Zustand verkünden den Herbst. Vereinzelte, abgefallene Blütenblätter verweisen auf das Ende der Blühzeit. Die unbearbeitete Leinwand, grobe Jute, erscheint manchmal zwischen den Blüten.

Ursula Helene Neubert liebt das schöne Gefühl, dass Blüten uns vermitteln. Sie fühlt sich „angetörnt“ beim Betrachten von Blumen. Die Erfahrungen des Sehens im Familiengarten und während ihrer langen Spaziergänge setzt sie in Malerei um. Sie lässt sich von der gefühlten Erinnerung führen, die erinnerte Farbgebung führt dabei den Pinsel.

In Korrespondenz zu der Natur sind Blüten in ihrer Malerei  auf den ersten Blick formgebend. Im Akt des Malens vernachlässigt Neubert die exakte, botanische Form, verwischt den Übergang vom Rand der Blütenblätter hin in die Umgebung. Durch den Einsatz von Komplementärfarben bringt sie die Farben ins Flirren. Die Bildwirklichkeit wird zu einer Anlehnung an die Blüten in der Natur.

Blumen schauen uns an, sagt Ursula Helene Neubert. Blüten sind Organe des Sich-zeigens, zitiert sie den Biologen und philosophischen Anthropologen Adolf Portmann. Sie können für uns ein Gegenüber sein, in dem wir uns erkennen;  denn Blüten haben ein Gesicht. Neubert malt die Blüten den Betrachtern zugewandt. So können wir selbst zum Gegenüber der Blumen werden. In seinem Gedicht Rosa Hortensie fragt Rilke, ob das Rosa auch von jemandem angenommen, zärtlich empfangen werde.

Neuberts Blüten sind teilweise bereits verblüht, die Strukturen lösen sich auf und die Farbgebung verändert sich. Abgefallene Blütenblätter erinnern nur noch an die vorherige Blütenform. Die vertrockneten Blätter verlieren an Leuchtkraft, die Farben auf dem Bild sind stumpf, verwaschen.

„Verwaschen wie an einer Kinderschürze,
Nichtmehrgetragenes, dem nichts mehr geschieht:
wie fühlt man eines kleines Lebens Kürze“,

heißt es in Blaue Hortensie von Rilke, eines ihrer Lieblingsgedichte.

Trotzdem verleiht Neubert den Blüten eine Farbintensität, die an das frühere Leuchten sich anschließt.

In der Opulenz ihrer Bilder zeigt Neubert das Wachsen und
Werden der Blumen, das große Ja, wie Rilke es nannte.
In einem indianischen Sterbelied wird das Leben als Blumenpfad beschrieben: wir werden Blumen pflücken auf unserem Weg.
Neubert begibt sich selbst auf den Blumenpfad. Im Hier und Jetzt greift sie auf ihren Spaziergängen Blüten auf und sammelt sie auf Bändern am Handgelenk. Der Blumenpfad wird zum Blütenband.

Zu Anfang des Sterbeliedes heißt es, wir werden oben gehen, der Milchstraße entlang. Das Leben wird also vom Tod her gedacht, wie auch die Blumen der dunklen Erde entstammen. Entsprechend gehen auch die Farben ihren Lebensweg, malt Neubert Blüten von strahlendem Rosa und Rot bis zum verwaschenen Ocker oder Rost.

Das dialektische Verhältnis zur Natur sah Joseph Beuys in der Rose als Kulturpflanze symbolisiert, die immer wieder neu entworfen und gezüchtet wird. Der Mensch hat sich zwar durch kulturelle Errungenschaften von der Natur emanzipiert, sie den eigenen Wünschen und Bedürfnissen untergeordnet, jedoch hat sich dabei der Umgang mit der Natur ins Zerstörerische entwickelt. Schon Caspar David Friedrich, betont Neubert, hat gesehen, dass die Menschen ihre Motivation für einen behutsamen Umgang mit der Natur verloren haben.

Kann die Kunst einen Anstoß geben, die Balance wieder herzustellen? Das Verhältnis von Natur und Technik zu versöhnen?

Bei einem offenen, verweilenden Blick auf Neuberts Bilder beginnen die Blumen, mit uns zu kommunizieren, fordern uns auf, ihr Rosa anzunehmen. Das Wahrnehmen der im Bild sich zeigenden Gefühle und Erinnerungen funktioniert wie ein Weckruf. Erst durch Anstoß und Erinnerung an etwas Schönes entwickeln wir Sehnsüchte und darüber hinaus Vorstellungen zur Veränderung. So nährt die Kunst unsere Visionen, die privaten und die politischen, und kann so zur Sprengkraft für gesellschaftliche Umbrüche werden. Das Dunkel der Erde und das Noch-nicht der Visionen bilden Räume für Bewegung und Wachstum.  Und so erschließt sich Neuberts Aufforderung, die zum Titel ihrer Ausstellung wurde:

Floreas!  Erblühe!

Welches Geheimnis ist das wichtigste, fragt der silberne König in Goethes MÄRCHEN den alten Mann mit der Lampe.
Das offenbare, antwortet der alte Mann.

Ins Gästebuch der Ausstellung haben begeisterte Besucher geschrieben, dass die Blumenbilder pure Freude auslösten. Diese unmittelbare Anwesenheit von Lebensfreude und Lebensbejahung, die sich in Ursula Helene Neuberts Bildern offenbart, ist zugleich deren Schlüssel und Geheimnis.

Inge  Harms
Juli 2019